Und wieder eine angebliche „Familientragödie“? Ein Kommentar von A. Bischof
„Tragödie“ klingt nach tragischem Schicksal: Sie lässt sich nicht vorhersehen. Und sie lässt sich nicht verhindern. Sie ist quasi „übernatürlich“.
Ein Mann tötet seine Frau und sein Kind auf brutale Weise. Mit trauriger Regelmäßigkeit sind wir mit so genannten „Familientragödien“ konfrontiert. Doch wenn wir vorschnell argumentieren, dass solche Taten nicht zu verhindern seien, machen wir es uns zu einfach. Denn familiäre Gewalt entsteht in einem sozialen Klima, in dem Nachbarn und Behörden wegschauen, anstatt zu handeln.
Die (meist männlichen) Täter sind vielfach nur auf den ersten Blick unauffällig und sozial gut integriert. Wer wollte, könnte erkennen, dass viele spätere Täter schon früh Anzeichen von Überforderung und Konfliktunfähigkeit, vielfach auch von Gewaltbereitschaft erkennen lassen.
Im Fall T. haben wir es mit einem Mann zu tun, der eine Reihe von Schicksalsschlägen zu verkraften gehabt hat. Seine erste Frau ist im Kindbett verstorben. Mit der Aufgabe, für sein neugeborenes Kind zu sorgen, ist der Mann überfordert. Die zweite Ehe ist nicht harmonisch. T. hat kaum Kontakte zu den anderen Bewohnern im Dorf. An seinem Arbeitsplatz hat er eine Art „Altar“ für seine verstorbene Frau errichtet. Das alles beobachten die Dorfbewohner. Aber sie gehen nicht auf T. zu. Sie verlassen sich auf den äußeren Eindruck, dass T. sein Leben „im Griff habe“. Sie schauen weg, als deutlich wird, dass die zweite Ehefrau ihren Stiefsohn misshandelt. Auch der Pfarrer, mit dem T. das Gespräch gesucht hat, fragt nicht weiter nach, als T. ihm von seinen Heiratsplänen berichtet. Er interessiert sich nicht für die Frage, wie es im Inneren dieses schweigsamen und nach außen hin korrekten Menschen aussieht.
Wer genauer nachfragen würde, könnte erkennen, dass T. – wie viele andere Täter auch – sich vor seinem „Amoklauf“ in einer Lebenssituation befindet, in der er Hilfe und Unterstützung benötigt. Aber dann müsste er auch handeln und Verantwortung übernehmen. Wegschauen ist bequemer.
Wir leben nach wie vor in einer Gesellschaft, in der familiäre Gewalt vielfach toleriert und als Privatangelegenheit betrachtet wird. Nicht nur in der Familie T., auch in vielen anderen Familien werden Kinder Opfer von sozialer Vernachlässigung und von psychischer oder körperlicher Gewalt. In der Öffentlichkeit wird darüber kaum gesprochen. Nachbarn schauen (oder hören) lieber weg, wenn sie Anzeichen familiärer Gewalt wahrnehmen. KindergärtnerInnen und LehrerInnen fühlen sich nicht zuständig, wenn sie Verhaltensauffälligkeiten beobachten. Behörden reagieren nur halbherzig, wenn es darum geht, Kinder vor elterlichen Übergriffen oder vor Verwahrlosung zu schützen. Anzeigen bei der Jugendwohlfahrt landen viel zu oft einfach in einem Akt. Für sozialarbeiterische Betreuung gibt es eine lange Warteliste. Und eine halbwegs aufgeräumte Wohnung gilt noch immer als Anzeichen für sozial intakte Verhältnisse.
Wenn wir familiäre Gewalt ernsthaft verhindern wollen, können wir uns solche Verhaltensmuster nicht leisten. Wir müssen früher und konsequenter handeln. Und auf den Begriff „Familientragödie“ sollten wir einfach verzichten.
(450 Wörter)
Begriff „kommentieren“
„Kommentieren“ bedeutet, einen Sachverhalt von einem bestimmten (subjektiven) Standpunkt aus näher erläutern und diskutieren. Insofern gibt es hier eine sehr große Nähe zu dem, was wir bereits als Analysieren kennengelernt haben.
Ein Kommentar bezieht sich immer auf einen vorgegebenen Anlassfall, auf ein aktuelles Thema, auf eine Diskussionsfrage u.a.m. Es gibt also bestimmte Voraussetzungen im Hintergrund. Von welchen Voraussetzungen ich ausgehe, muss ich im Einleitungsteil anführen.
Kommentar als Textsorte:
Ein Kommentar ist ein Text, in dem der Verfasser / die Verfasserin zu einem konkreten aktuellen Thema aus persönlicher Sicht kritisch Stellung nimmt. Dabei kann entweder eine argumentative oder eine wertende Grundhaltung im Vordergrund stehen. Ein Kommentar ist also – in diesem Sinn – ein konkreter Diskussionsbeitrag im Rahmen einer größeren Diskussion oder Debatte. Es wird nicht das Thema als Ganzes diskutiert, sondern eine bestimmte isolierte Fragestellung, ein bestimmter thematischer Aspekt oder eine bestimmte Perspektive ins Zentrum gestellt.
Ein Kommentar hat meistens einen starken Adressatenbezug. Dabei kann ein bestimmtes Vorwissen bei den LeserInnen vorausgesetzt werden. An dieses Vorwissen kann der Verfasser / die VerfasserIn anknüpfen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, mögliche Einwände und Gegenpositionen von LeserInnen in der Argumentationsführung zu berücksichtigen. Der Leser sollte „abgeholt“ und „geführt“ werden.
Im Unterschied zur Erörterung, die zu einem offenen Resümee gelangen kann, gelangt ein Kommentar zu einer klaren Schlusspositionierung oder Empfehlung. Das Diskussionsresümee kann nicht neutral sein.
Vom Umfang her ist ein Kommentar (vor allem im journalistischen Kontext) eher knapp. Inhaltliche Verdichtung und Pointiertheit sind daher wichtige stilistische Aspekte.
Der Kommentar ist eine wichtige journalistische Textsorte. Er erfüllt eine wichtige Funktion im Hinblick auf die öffentliche Meinungsbildung. Kommentare sind (im Unterschied zum Bericht) immer auch namentlich gekennzeichnet. Journalistische Kommentare mit besonderen Merkmalen sind z. B. der Leitartikel (Blattlinie, ChefredakteurIn / HerausgeberIn; umfangreicher), die Glosse (Ironie, sprachliche Pointiertheit), die Kolumne (Regelmäßigkeit, „identifikatorische“ Merkmale, persönliche Färbung) u.a.m.
Unterschiedliche Kommentarformen
Der Zeitungskommentar ist die Grundform der meinungsorientierten (subjektiven) journalistischen Textsorten. Der Kommentar unterscheidet sich meistens schon optisch (anderes Layout) vom Bericht. Außerdem ist der Kommentar ausdrücklich als solcher gekennzeichnet oder er steht in einer Rubrik, die als „Kommentar“ oder als „Meinung“ übertitelt ist. Schließlich ist der Kommentar gut sichtbar und im Normalfall am Anfang des Textes mit dem Namen des Verfassers gekennzeichnet. Bei GastkommentatorInnen sind auch ergänzende Hinweise zum Hintergrund und zur Perspektive, aus der der Verfasser argumentiert, angeführt.
Unterformen des Zeitungskommentars sind die Glosse (sprachlich und argumentativ zugespitzter Kommentar; Stilmittel der Ironie; weniger „ernste“ Themen), der Leitartikel (umfangreicher Kommentar des Chefreakteurs / der Chefredakteurin oder des Herausgebers / der Herausgeberin), die Kolumne (regelmäßiger Kommentar mit einer bestimmten „Grundidee“), die Rezension (Literatur- oder Filmempfehlung, …).
Eine andere Form des Kommentars ist die Stellungnahme. Von einer Stellungnahme spricht man eher im wissenschaftlichen oder technischen Kontext.
Eine weitere Form des Kommentarsist der Textkommentar. Er bezieht sich auf einen anderen Text (z. B. Gesetz, literarischer Text, religiöser Text, …) und erläutert, interpretiert, legt diesen aus.
Inhaltliche Merkmale
Beschreibung (Sachorientierung): Sachlich genaue, aber knappe Beschreibung des Sachverhalts, sofern er für die Argumentation wichtig ist
Argumentation: Nachvollziehbare argumentative Struktur (Leitfrage --> These --> argumentative Darlegung der These); argumentative Qualität und Überzeugungskraft; ev. Einbeziehen von [möglichen] Gegenargumenten // Widerlegung dominanter Argumente;
Gesamtkomposition (argumentative Struktur; Kohärenz; argumentative Entwicklung/Stringenz)
Adressaten / Leserbezug (rhetorische Stilmittel; Einbeziehung von möglichen Gegenargumenten; Berücksichtigung des Erfahrungs- und Diskussionshintergrunds der LeserInnen)
Inhaltliche Verdichtung ist eher hoch (wenig Redundanzen; keine Wiederholungen; ganz knapper / pointierter Schluss; wenige, aber treffende Beispiele)
Sprachliche Merkmale
Sprachliche Genauigkeit und Differenziertheit (Beschreibung, Argumentation); z. B. in der Argumentation logische Präzision durch Bindewörter, Umstandswörter, Adjektive, …; sinnvolle Differenzierungen z. b. durch Quantoren (alle /einige / manche / viele)
Sprachliche Schönheit (Pointiertheit; stilistische Eigenheiten; Wortschatz; …)
Mittel der Veranschaulichtung / Konkretisierung (Beispiele, Bilder, Vergleiche, …)
Rhetorische Stilmittel (z. B. Frage, Wiederholung, Leseranrede, …)
Formale Merkmale
argumentative Abschnitte dominieren
Leser-/ Adressatenbezug
eher zielorientierte Struktur (Resümee / Schlusspunkt, auf den die gesamte Argumentation hin orientiert ist)
Planungsschritte
Schritt 1: Definition und Beschreibung der Ausgangsposition / des Sachverhalts / der zentralen Argumentationslinien und Standpunkte
Schritt 2: Definition des Diskussionsaspekts / der Diskussionsfrage
Schritt 3: Definition der Schlusspositionierung
Schritt 4: Entwicklung zentraler Thesen, die in die Schlusspositionierung münden; Einbeziehung möglicher Gegen-Standpunkte und Einwände
Schritt 5: Auswahl passender eindrücklicher Beispiele, Bilder, Fragestellungen, …
Schritt 6: Argumentations-Skizze verfassen (z. B. Mindmap; Grafik)
Verschriftlichung
Schritt 7: Verfassen des Textes
Überarbeitung
Schritt 8: Optimierung des Textes in inhaltlicher Hinsicht (v.a. Verknappung, Streichung von Redundanzen, rhetorische Stilmittel, argumentative Schärfung), in sprachlicher Hinsicht (Modifizierungen, rhetorische Stilmittel) und formaler Hinsicht (Zielorientiertheit)
Informationen zur standardisierten Reifeprüfung finden sich auf der Webseite der Bildungsministeriums
Informationen zur VWA finden sich auf der offiziellen Webseite VWA